Gedanken zum Wandel - Natur und Kultur

Ich bin in der flachen norddeutschen Tiefebene aufgewachsen, wohne aber schon fast 20 Jahre in der Schweiz. Immer wieder beobachte ich an mir, wie ich über Dinge staune, die anderen Leuten selbstverständlich sind, z.B. das Wunder der Dreidimensionalität, das mir die Alpen bieten. So auch auf der Wanderung am Wochenende durch die Taminaschlucht, von der die Bilder stammen


Von der Natur zur Kultur und zurück

Die Art und Weise, wie hier Kultur und Natur ineinander fliessen, sind beeindruckend, werfen aber auch Fragen auf: was genau ist hier denn wirklich "Natur"? Wenn Kultur alles betrifft, wo der Mensch Hand angelegt und eingegriffen hat, bleibt für die Natur wenig Raum: wo immer ich auf Begradigungen, Monokulturen, Felder oder befestigte Wege stosse, hat der Mensch gewirkt.

Immer wieder zeigen Landschaften durch einen Blickwechsel die Spuren des Eingriffs. Wie weit geht der Naturbegriff? Ist nur vom Menschen unberührte Natur echte Natur? Und spürt sie nicht auch den Klimawandel, den der Mensch (mit) verursacht hat?

Vielleicht lebt der Naturbegriff gerade von der Abgrenzung zum Kulturbegriff, als Teil eines Gegensatzpaares, das uns seit den Sophisten begleitet, aber nicht für sich und um seiner selbst Willen? Wenn es so wäre, welcher Blickwinkel ermöglicht uns dann die Überwindung des Gegensatzes und die Öffnung eines neuen Horizontes? Mir geht es bei Wanderungen wie Petrarca: die Gedanken wandern mit, folgen dem Rhythmus der Schritte und führen einem zu überraschenden Einblick, neuen Verknüpfungen oder auch einfach zur Beruhigung des Gemüts.

Vom Wandel der Kultur

Bei agilen Transformationen wird auch gerne von Kulturwandel gesprochen, der herbeigeführt werden soll. Vom Mindset ist die Rede, der sich ändern, also "korrigiert" werden soll.

Personalabteilungen von grossen Unternehmen machen gerne Workshop-Serien und Events, durch die alle Mitarbeiter geschleust werden, damit sie die "neue" Kultur, die mit der Strategie verordnet wurde, auch verstehen, erleben  und dann einfach "machen" können: mit drei Folien vom Fixed-Mindset zum Growth-Mindset.

Und wenn es nicht klappt, dann ist doch deutlich geworden, dass die Mitarbeiter es halt nicht kapiert haben und man ihnen halt weiterhin sagen muss, wo es lang geht und wie es funktioniert.

In einem Firmenkurs zu Agilen Organisationen hatte ich einen Abschnitt vorbereitet, der sich dem Thema Kulturwandel widmete. Alle Kursteilnehmer haben die Augen verdreht, bloss dieses Thema nicht, sie hätten da gerade Workshops und Schulungen hinter sich, sie wollten nichts dazu hören. Wir nutzen die Zeit für die Vertiefung anderer Themen, die für sie näher an ihren Bedürfnissen und ihrem Wissenshunger waren.

Beschwörung des Mangels?

Ein Freund von mir stöhnte öfters, weil sein Vorgesetzter immer davon sprach, dass man "teamfähig" sein müsse, alle aber genau wussten, dass das seine starke Seite nicht war.

Vielleicht ahnte der Chef das oder kriegte es selber öfters zu hören und meinte, wenn er es von seinen Untergebenen einfordert, fällt das auf ihn zurück? Ich weiss es nicht, aber seitdem beobachte ich, welche Themen in Strategien oder Posteraktionen als Werte der Firmenkultur beworben werden, um sie bei den Mitarbeitenden zu verankern, und prüfe, wie stark diese Werte im Top- und Mittelmanagement verankert sind.

Meine These: "Kultur"-Probleme im oberen Management werden mit "Kultur"-Massnahmen in den unteren Ebenen angegangen.

Mein Grund für diese These: Über so etwas Selbstverständliches wie Luft machen wir uns erst Gedanken, wenn sie knapp wird oder zu Gesundheitsschäden führt. Ansonsten ist die einfach da und funktioniert. Soll heissen: solange wir einen vertrauensvollen Umgang pflegen, ist es für uns selbstverständlich und wir reden nicht gross darüber. Im Idealfall machen wir uns bewusst, dass wir ihn pflegen und schätzen ihn. Erst wenn er in Frage gestellt wird oder fehlt, kommt er zur Sprache (wobei das wiederum Vertrauen und einen offenen Umgang erfordert) oder führt zu Ausflüchten und Auswüchsen als Krankheitsbild für das fehlende Vertrauen.

Muskelspiel und Abläufe beobachten und anpassen

Ich schätze meine Krankengymnastin sehr und gehe auch mit kleineren Problemen mal zu ihr, um ihre Einschätzung zu hören, ob mehr dahinterstecken könnte.

Wenn ich mit einem Problem zu ihr gehe, hört sie mir zu, lässt mich einfache Bewegungsabläufe machen und zeigt mir anschliessend durch Nachahmung, was sie beobachtet hat: mein Körper weicht aus, um dem inzwischen erlernten Schmerz zu umgehen. Sie gibt mir Tipps, wie ich die Ausführung verbessern kann, worauf ich achten soll, und lässt mich die Übung ein paarmal wiederholen, bis sie zufrieden ist, d.h. ich die Anweisungen umgesetzt habe und somit allein weiter üben kann.

Einige dieser Übungen, so klein und harmlos sie erscheinen mögen, haben es innerhalb kürzester Zeit geschafft, mein Gehirn wieder "umzuprogrammieren": in einem Fall konnte ich innerhalb einer Woche Bewegungsabläufe machen, die ich kurz zuvor unter Schmerzen abbrechen musste. Beim Bandscheibenvorfall ging es nicht so schnell, doch das Prinzip hat auch hier die gewünschte Wirkung entfaltet.

Gemeinsames Verständnis und Empathie

Wie komme ich jetzt auf diesen Vergleich? Anstelle eines Giesskannenprinzips, bei dem alle Personen alle Workshops und Schulungen durchlaufen, bevorzuge ich zielgerichtete Massnahmen.

Über Fragen und Beobachten der konkreten Situationen zu den neuralgischen Punkten kommen und diese gezielt angehen.

Es gehört zu meinen Grundmustern, dass ich allen Menschen erstmal eine vernünftige Arbeitsweise unterstelle: sie gehen so vor, weil es für sie selbst im Rahmen der Umstände die beste Lösung zu sein scheint. Ähnlich wie meine Krankengymnastin versuche ich, den Schmerz zu verstehen, indem ich das System beobachte und wie sich die einzelnen Akteure in den konkreten Situationen verhalten.  Je nachdem, wie lange die Situation schon in Schieflage ist und welche Akteure wie involviert sind, können sehr unterschiedliche Lösungen angemessen sein.

Ein Erfolgskriterium ist dabei der Einbezug aller Beteiligten: ihre Erfahrung und ihr Wissen ist wichtig, nur so bekomme ich eine tragfähige Lösung. Das erfordert Mut, Zeit und Geduld, aber Ausrufe wie "Ach, SO ist das - das habe ich nicht gewusst!" sind Musik in meinen Ohren: hier wächst ein gemeinsames Verständnis für das grössere Ganze, der Humus, auf dem Veränderung entstehen und gedeihen kann, ein zartes Pflänzchen, der die Aufmerksam und Sorge aller braucht. Kulturwandel oder zurück zur Natur? Nun ja, gemäss van Schaik und Michel [1] hat der Mensch ja drei Naturen …

Ausklang

So liegen Wandeln im Sinne von Wandern und auch von Veränderung nahe beieinander. Unser Tag in der Taminaschlucht endete mit einem ausgiebigen Bad im Zürichsee. Weitere Gedanken zum Wandel werden folgen.

Für einen Austausch zum Wandel bei einer Wanderung oder einer Tasse Kaffee melden Sie sich einfach - wir sind für Sie da!


[1] Aus: „Das Tagebuch der Menschheit“ von Carel van Schaik und Kai Michel. Ein Evolutionsbiologe und ein Historiker, beides bekennende Agnostiker, erkunden die Bibel. „Die erste Natur“, schreiben sie, „sind unsere angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben. Sie haben sich über die Jahrhunderttausende hinweg entwickelt“ und sind uns heute praktisch angeboren. Die zweite Natur ist das, was wir als Kultur oder Habitus bezeichnen: Das, was man in einer Gesellschaft tut oder eben nicht macht. Das ist von Region zu Region unterschiedlich, weil anerzogen. „Die dritte Natur nennen wir unsere Vernunftnatur … Beispiele dafür sind jene Dinge, die wir nur widerstrebend tun, obwohl wir wissen, dass sie gut für uns oder zumindest vernünftig wären.“ Und weil ausgerechnet die erste Natur die wirkungsvollste und die dritte die schwächste ist, misslingt uns die Umsetzung auch immer wieder.

Zusammenfassung dankend entlehnt von Die drei Naturen des Menschen.

 

 

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